Drei Schiffe - eine Holzskulptur von Kang Sunkoo zur Erinnerung an Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung

Jüdische Familien sind bis in die frühen 1930er Jahre ein selbstverständlicher Teil der Neusser Stadtgesellschaft. Jüdische Mädchen besuchen daher auch die Schule Marienberg, wie etwa die drei Schwestern Lotte, Ilse und Ruth der Familie Josephs, hier auf einer Fotografie von 1936.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 jedoch begann die Demütigung, Ausgrenzung und Entrechtung der Juden in Deutschland, in der Gesellschaft wuchs der Hass auf alles Jüdische. Auch in Neuss mussten jüdische Familien wie die der Geschwister Josephs in der Pogromnacht vom 9. November 1938 den Ausbruch offener Gewalt erleben. Die systematischen Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten mündeten im Plan zur Vernichtung aller europäischen Juden. Manchen gelang die
Flucht, Millionen jedoch deportierte man in Ghettos und Vernichtungslager und insgesamt 6 Millionen Juden wurden im Holocaust ermordet, darunter auch die Familie Josephs.

Das eindringliche Bildwerk von Kang Sunkoo erinnert an dieses dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, an das unsägliche
Leid, das sich immer und überall wieder als Folge eines absichtsvoll geschürten Hasses entwickeln kann. Drei Schiffe ist auch eine Vergegenwärtigung dessen, dass noch heute Menschen Schutz suchen müssen vor antisemitischer, islamophober oder rassistischer Gewalt. Nur wenige, allgemein vertraute Elemente bestimmen die Plastik von Kang Sunkoo: unter einem sich in Falten legenden
Vorhang erkennt man drei nur mit Socken bekleidete Füße, die hinsichtlich ihrer Größe zu Kindern unterschiedlichen Alters zu gehören scheinen. Schnell begreift man, dass es sich um ein plastisches Bild handelt, dessen Wahrheit sich nicht an Wirklichkeitstreue messen lässt. So wölben sich fünf der Vorhangfalten in einer Weise in den Raum hervor, die physikalisch unmöglich erscheinen muss. Wir befinden uns daher in einer Bildwelt, die der von Märchen weit näher als der von Nachrichtensendungen stehen muss. Vielleicht könnte man von Schutzräumen sprechen, die mit diesen großen Falten von dem Vorhang gebildet werden. Es mag auch das Erinnern an spielende Kinder geweckt werden, die sich hinter Vorhängen gänzlich versteckt zu fühlen glauben, obwohl man doch ihre Füße
sehen kann. Ebenso lassen sich Verbindungen zu architektonischen Formen assoziieren, zu konisch nach oben
sich verjüngenden spirituellen Räumen, zu Turmspitzen christlicher Kirchen oder zu Kleidungsstücken wie spitzen Hüten. Es liegt daher nicht fern, an den Begriff „behütet“ zu denken, der sich vom Hut ableitet. Kang Sunkoo selbst hat diese Formen als „Schiffe“ bezeichnet,
da die vorgewölbten Falten umgedrehten Schiffsrümpfen ähneln mögen, aber auch, weil die wesentlichen Bauteile christlicher Kirchen als „Schiffe“ bezeichnet werden, die in Romanik und Gotik durch Gewölbe nach oben abgeschlossen waren. Und Schiffe sind ein uraltes Bild für die Lebensfahrt der Menschen in einer das Dasein bedrohenden Umwelt, aus der es Untergang oder Rettung geben kann, wie es z.B. in den biblischen Geschichten von Noahs Arche oder dem Binsenkörbchen zu finden ist, in dem Moses als Baby im Nil ausgesetzt wurde. Für Kang Sunkoo hat jedoch auch die tiefe Verwurzelung des Vorhang-Motivs in den drei großen Religionen westasiatischen Ursprungs große Bedeutung. So schützte der Tempelvorhang, die Parochet, im Jerusalemer Tempel das Allerheiligste mit der Bundeslade, weshalb in jeder heutigen Synagoge der Toraschrein von einer Parochet verdeckt wird. Vergleichbar bedeckt die muslimische Sitara den Eingang der Kaaba im Innenhof der Heiligen Moschee in Mekka. Und das christliche Fastentuch, abgeleitet aus dem Tempelvorhang, verhüllt in der Fastenzeit in katholischen und evangelischen Kirchen die bildliche Darstellung Christi, meist ein Kruzifix.
Größe, Stellung und Haltung der drei Fußpaare lassen unterschiedliche Regungen erkennen und individualisieren damit die mit den Füßen assoziierten Kinderpersönlichkeiten. Während sich das mittlere Kind mit den größten Füßen auf Zehenspitzen stellt, als ob es sich unsichtbar machen wolle, und das links davon stehende Kind mit parallel nach vorne ausgerichteten Füßen mutig Ruhe bewahrt, scheint
das rechte und kleinste der drei Kinder zur Mitte hin gewandt sich von dort verunsichert Hilfe zu erhoffen. Mit seiner Entscheidung, drei Kinder in fünf „Schiffen“ darzustellen, stellt sich Kang Sunkoo in eine weit zurückreichende Symbol-Tradition. Drei ist mehr als das auf sich selbst verweisende Paar. Es ist der Beginn einer Gruppe, wobei jedoch eine Person in der Mitte steht und hervorgehoben wird, wodurch die Gruppe begrenzt und in sich geschlossen ist. Drei überschreitet auch die Dualität alles Irdischen, von Himmel und Erde, Tag und Nacht, Winter und Sommer, warm und kalt. Drei transzendiert diese Dualität. In wieweit christliches, jüdisches oder islamisches
Denken im Bildwerk von Kang Sunkoo berührt oder nur gestreift wird, mögen Betrachtende für sich selbst entscheiden.
Das Werk des Künstlers ist ein starker Dialogpartner Visualisierungen des Kunstwerks Drei Schiffe, Kang Sunkoo in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, der vor nicht einmal hundert Jahren geschah und immer noch nachwirkt, sich aber in anderer Form überall auf der Welt ständig wieder ereignet. An ein lustiges Kinderspiel mag man beim Anblick von Kang Sunkoos Plastik nicht denken. Zu verloren und schutzlos stehen die kleinen Füße unter dem hoch aufragenden Vorhang, zu gefangen sind die drei Figuren in ihm. Schließlich verbinden wir mit einem Vorhang die Erfahrung, dass er etwas verbergen bzw. zwei Raumsphären für eine
gewisse Zeit ohne großen Aufwand voneinander trennen soll, wie es mit einer Wand nicht durchführbar wäre. Auch ein Theaterstück endet mit dem Schließen des Bühnenvorhanges. So spricht man auch vom „Vorhang des Vergessens“, wenn man mit einem Ereignis verbundene negative Gefühle wie Scham, Schuld oder Angst nicht wieder durchleben möchte.
Dass der Holocaust nicht vergessen wird, ist unser aller Aufgabe. Auch heute werden weltweit Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, Abstammung, Sprache, Heimat und Herkunft, ihres Glaubens, ihrer religiösen oder politischen Anschauungen oder einer Behinderung verfolgt oder gar getötet. Kunstwerke wie Drei Schiffe können uns dabei helfen,
wachsam zu sein.
Entwurf, Herstellung und Aufstellung der Skulptur Drei Schiffe wurden durch private Spender und die Schule Marienberg ermöglicht.
Text von Dr. Annekatrin Schaller und Thomas Brandt. Neuss, 2025
Grafik: Jan van der Most, Düsseldorf
Kang Sunkoo
1977 in Seoul geboren, entschied sich Kang Sunkoo während seiner Kindheit in Düsseldorf für die katholische Kirche. Während seiner Schulzeit besuchte er die Neusser Schule für Kunst und Theater (Alte Post) und wählte danach ein Studium der Architektur an der RWTH
Aachen. Nach seinem Diplom arbeitete er als Architekt in Basel, Beijing und Paris. Er lernte den Künstler Ai Weiwei kennen, dessen Arbeit er mehrere Jahre begleitete. Mit ihm unterrichtete er an der Universität der Künste Berlin. Im Anschluss begann Kang seine Tätigkeit als bildender Künstler, in welcher er sein Interesse für architektonische und plastische Formen mit politisch gesellschaftlichen Themen
verbindet. Drei dieser Entwürfe für öffentliche Bauten in Berlin wurden bisher prämiert und werden realisiert, so das Werk „Statue of Limitations“ für das Humboldt-Forum, „Heimat Heimat“ für das Bundesministerium des Innern und für Heimat, und „Urhütte“ für das Bundesamt für Strahlenschutz. Im Februar 2025 eröffnete seine Einzelausstellung „Sakristei“ im Bauhaus Dessau. Kang Sunkoo lebt mit
seiner Familie in Basel.
14 jüdische Mädchen sind bekannt, die in der Zeit der nationalsozialistischen Regierung die Schule Marienberg besucht
haben – nicht aufgeführt sind weitere 41 Mädchen, die vor 1933 die Schule verlassen haben:
Helga Neuburg, geb. 19.3.1916, Schulbesuch 1922 – 34, ermordet
Erna Stein, geb. 24.6.1917, Schulbesuch 1923 – 33, nach England emigriert
Lotte Josephs, geb. 11.9.1917, Schulbesuch 1924 – 34, ermordet
Ilse Josephs, geb. 11.6.1919, Schulbesuch 1925 – 36, ermordet
Ruth Josephs, geb. 29.6.1921, Schulbesuch, 1928 – 36, ermordet
Lore Levy, geb. 31.1.1922, Schulbesuch 1928 – 36, nach Argentinien emigriert
Lore Stein, geb. 31.5.1922, Schulbesuch 1928 – 36, ermordet
Ellen Hoffmann, geb. 19.1.1923, Schulbesuch 1929 – 38, ermordet
Ruth Hoffmann, geb. 1.3.1924, Schulbesuch 1930 – 38, evtl. Kindertransport nach London
Lieselotte Katz, geb. 5.1.1917, Schulbesuch 1931 – 33, nach Palästina emigriert
Ilse Capell, geb. 19.4.1916, Schulbesuch 1931 – 33, in die USA emigriert
Noemi Boehm, geb. 22.7.1922, Schulbesuch 1933, nach Palästina emigriert
Milli Stein, geb. 8.2.1927, Schulbesuch 1933 – 38, ermordet
Maria Frohwein, geb. 14.3.1923, Schulbesuch 1933 – 34, nach Südafrika emigriert
(Recherche des Stadtarchivs Neuss und von Schülerinnen des Gymnasiums Marienberg in der Stammrolle der Schule)