„Still standing“


Der 7. Oktober 2023 ist der Tag, an dem die Terrororganisation Hamas Israel zahlreiche israelische Orte, Kibbuze und Armeestützpunkte entlang der Grenze zum Gazastreifen angegriffen hat. Hamas-Kämpfer töteten nach offiziellen israelischen Angaben mehr als 1200 Menschen. Die Terroristen stellten viele ihrer Gräueltaten in Bildern und Videos in den sozialen Medien online. Der Angriff auf Israel konnte quasi weltweit in Echtzeit verfolgt werden. An diesem Tag fand der schlimmste Pogrom an Juden seit dem Ende des Holocaust statt.
Was der terroristische Angriff auf Israel bedeutet, zeigt die Ausstellung „Humans of October 7“ von Erez Kaganovitz. Mit seinen Bildern erzählt er von den persönlichen Schicksalen, aber auch von der Kraft der Opfer antisemitischer Gewalt zur Bewältigung dieses Traumas. So will er dazu beitragen, kulturelle und gesellschaftliche Klüfte sowohl in Israel als auch im Ausland zu schließen, indem er durch seine Fotos und durch die dazu gehörenden Geschichten gegenseitiges Verständnis und Empathie fördert.

Genau das ist Erez Kaganivitz am Gymnasium Marienberg gelungen. Die Schülerinnen lernten beispielsweise Hamid Abu Ar’ar kennen. Er war mit seiner Frau und dem jüngsten ihrer neun Kinder im Auto unterwegs, als sein Auto von Hamas-Terroristen auf Motorrädern unter Beschuss genommen wurde. Seine Frau wurde tödlich getroffen. Er betete zu Allah, während sie starb. Als er sich mit seinem Baby in eine Trafostation rettete, musste er sie im Auto zurücklassen. Fünf Stunden mussten die beiden Überlebenden dort aushalten. Dann hörte er auf der einen Seite der Trafostation arabische Worte, auf der anderen hebräische. Israelische Soldaten wussten nicht, dass sie in eine Falle laufen würden. Hamid entschied sich, die Soldaten zu warnen – trotz der Lebensgefahr. Die Soldaten, er und sein jüngster Sohn wurden gerettet. Hamid betont: „Unser Islam ist das Gegenteil dessen, was diese Terroristen getan haben.“
Naama Eitan tanzte die ganze Nacht hindurch mit hunderten anderer junger Leute auf einer Rave-Party, als die Hamas kurz nach Sonnenaufgang angriff. Es gelang ihr, sich mit weiteren jungen Frauen in einem Gebüsch zu verstecken. Per Handy sandten sie ihre Standortdaten an ihre Kontakte. Viele solcher Hilfeschreie gelangten zu Rami Davidan, einem Landwirt. Er und andere Bewohner seines Dorfes retteten Hunderte von Besuchern der Party, auch Naama. Was er dabei erlebt hat, erschüttert ihn bis heute. Aber er will und wird die Hoffnung nicht aufgeben – ebenso wenig wie die Menschen, die immer noch auf ihre von der Hamas verschleppten und als Geiseln gehaltenen Angehörigen warten.
Erez Kaganovitz erzählte von den Holocaust-Überlebenden Ruth Haran und Haim Raanan. Sie überlebten das Hamas-Massaker, aber Ruth verlor ihren Sohn und weitere Familienmitglieder, Haim viele Bekannte an seinem Heimatort, dem Kibbuz Be’eri.

Der Fotokünstler brachte die Schülerinnen zum Nachdenken über eine Frage, die in Israel die Menschen bewegt: Kann man den Terror-Überfall der Hamas als Holocaust bezeichnen, oder muss man ihn zu den Pogromen rechnen?
Im Kibbutz Be’eri wurden 10 % der Bewohner getötet. Haim Jelin, der in dem Kibbutz wohnte, leidet unter den Verlusten. Er steht in einem zerstörten Haus und versichert: „Ihr könnt Häuser zerstören, ihr könnt Infrastrukturen verwüsten, aber unseren Geist könnt ihr nicht brechen.“ Eretz Kaganovitz forderte die Schülerinnen auf, einen Titel für sein Foto von Haim zu finden. Einer Schülerin fiel eine Liedzeile ein: „I’m still standing“ – trotz der Verluste und des unermesslichen Schmerzes steht Haim und will in Israel weiter leben. Er und viele, viele Menschen suchen nach dem Gefühl von Sicherheit, das ihnen ihr Staat bislang geben konnte. Ihnen ist bewusst, dass sie kein anderes Zuhause als Israel haben. Daher wollen sie in ihrem Land bleiben, ihre Schmerzen aushalten, bewältigen, überwinden und Hoffnung weitergeben.
Der Fotokünstler Kaganovitz konnte den Schülerinnen glaubwürdig versichern, dass er sein Leben und das Leben seiner Kinder nicht auf Zorn und Hass aufbauen will. Er will mit seinen Bildern und den Geschichten, die sie erzählen, gegen den wachsenden Antisemitismus kämpfen, indem er zeigt, was die Gesellschaft in Israel prägt und was die Menschen bewegt. Im Herzen berührt von seinen Worten dankten ihm die Schülerinnen des Gymnasiums Marienberg für seinen Besuch. Ihr Wissen um die Auswirkungen des Terrorangriffs vom 23. Oktober 2023 auf Menschen in Israel, ihre Hoffnung auf Versöhnung durch Zuhören und Empathie sowie ihre Bereitschaft, in aufgeheizten Diskussionen zu differenzieren, wurden durch diese Ausstellung und den Dialog mit dem Fotokünstler vertieft – was kann eine Schule mehr anstreben?!
Annette Rieks
