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Gedenkveranstaltung in Erinnerung an die Reichspogromnacht am 9.November 1938:Vergangenheit erforschen-Gegenwart neu begreifen

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Datum:
1. Nov. 2019
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Im Gedenken an die Opfer der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Neuss

Gedenkveranstaltung am Freitag, den 8. November 2019

 

Reiner Breuer, Bürgermeister der Stadt Neuss und Bert Römgens von der jüdischen Gemeinde in Neuss betonten in Ihren Ansprachen gleichermaßen die beklemmende Aktualität der Thematik in Bezug auf bekannte Ereignisse in der aktuellen politischen Landschaft Deutschlands.

Da können und müssen die Signale, die der Neubau einer Synagoge in Neuss, dessen Fertigstellung in 2020 zu erwarten ist und die Bemühungen der Stadt um eine Partnerstadt in Israel als Signale von Hoffnung wahrgenommen werden.

Aber, so formulierte es Bert Römgens unmissverständlich als Leitfrage seiner Ansprache : "Wir haben versagt!" und reflektierte damit das Versagen vieler gesellschaftlich relevanter Institutionen im Kampf gegen den neuen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland.

Schülerinnen des Gymasiums Marienberg, das die Thematik in verschiedener Hinsicht intensiv behandelt und u.a. seit vielen Jahren einen jährlich stattfindenden Austausch mit einer Partnerschule in Israel pflegt, hatten sich intensiv auf die heutige Gedenkveranstaltung vorbereitet. Ihren Wortbeitrag, der in einen musikalischen Beitrag mündete, können Sie hier lesen:

 

Beitrag der Schülerinnen zur Gedenkveranstaltung 9. November 2019

Guten Tag, 

Wir sind Schülerinnen des Marienberg Gymnasiums und haben mit unserem Geschichtskurs aus der Q2, einen Teil der heutigen Gedenkfeier vorbereitet. Im Vorhinein haben wir uns besonders mit den Biografien der ehemaligen, jüdischen Marienbergerinnen beschäftigt. Dazu haben wir reichlich Informationen aus dem Neusser Stadtarchiv erhalten. Vielen Dank nochmal dafür.

Anmoderation 

Wir wollen Ihnen heute, an diesem Gedenktag, die Geschichte von Lore Levy, einer Neusser Jüdin, näherbringen. Dabei wollen wir besonders den Fokus darauflegen, wie es ist ein Opfer sozialer, politischer und wirtschaftlicher Ausgrenzung zu werden.

Insgesamt gab es zu dieser Zeit fünf Jüdinnen, die das Marienberg besuchten. Die einzige, die von ihnen überlebt hat, war Lore Levy. Lore war ungefähr in demselben Alter wie wir, sie ging durch die gleichen Gänge wie wir und sie wurde in den gleichen Räumen unterrichtet, als sich ihr Leben plötzlich vollkommen veränderte. 

Lore und ihre Familie, ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder wurden aus ihrem Alltag gerissen und mussten ihre Existenz, hier in Neuss, aufgeben, um zu fliehen, um zu überleben. Sie mussten ihr Geschäft, ihr Haus, ihre Freunde, ihr Umfeld und ihre Heimat aufgeben, um in ein fremdes Land zu fliehen, um zu überleben.

Die jüdische Dichterin Mascha Kaléko beschreibt in ihrem Gedicht Überfahrt anschaulich, wie es Lore zumute gewesen sein muss: 

Sei du im Dunkeln nah. Mir wird so bang.

Ich habe Vaterland und Heim verlassen.

Es wartet so viel Weh auf fremden Gassen.

Gib du mir deine Hand. Der Weg ist lang.

Wer ist Lore Levy gewesen?

Lore Levy wurde am 31.01.1922 in Osnabrück geboren und zog mit fünf Jahren mit ihren Eltern Sally und Marta Levy und ihrem jüngerem Bruder Manfred nach Neuss. Sie wohnten am Büchel 48. Ihre Eltern führten dort das beliebte und erfolgreiche Bekleidungsgeschäft „Hosenkönig“.

Lore selbst besuchte seit ihrem sechsten Lebensjahr die damalige höhere Mädchenschule Marienberg.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die Juden in Deutschland Schritt für Schritt ausgegrenzt, aus Ämtern entfernt, enteignet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die stetige Boykottierung und schließliche Arisierung jüdischer Geschäfte zwang Lores Eltern schließlich 1937, das Familiengeschäft aufzugeben und ihr Hab und Gut zu verkaufen. Bereits ein Jahr zuvor hatte Lore mit 14 Jahren die Schule Marienberg verlassen müssen.

Angesichts der immer aussichtsloser werdenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation entschlossen sich die Levys, Deutschland zu verlassen. Sally und Marta Levy ließen Passbilder der gesamten Familie anfertigen. Zur weiteren Vorbereitung der Emigration reiste ihr Vater zwischen Februar und März 1937 ins Ausland.

Im Mai 1937 siedelte die Familie nach Argentinien über und wohnte fortan in Buenos Aires. Lores Bruder kehrte in den fünfziger Jahren nach Deutschland zurück und starb dort 2002. Lore blieb bis zu ihrem Lebensende in Argentinien. Einzig 1988 folgte sie einer Einladung zu einem Besuch ihrer ehemaligen Heimatstadt und kehrte noch einmal nach Neuss zurück. 

 

Lore Levy - eine von vielen Persönlichkeiten, aber eine von den wenigen die es geschafft hat, der Progromnacht zu entkommen durch rechtzeitige Flucht, und die überlebt hat.....

Aber wie ist das, wenn man heraus gerissen wird aus seinem Alltag, aus seiner Existenz, aus seiner Lebenssituation? Alles neu, ein völlig fremdes neues Land erwartet Lore Levy, in dem sie nun aufwachsen wird. Sie muss eine neue Sprache lernen, sich umorientieren und wird ihre Freundinnen aus der Schule wohl niemals wieder sehen. 
Versuchen wir einen Augenblick, uns in die Situation Lore Levys und vieler anderer Menschen hineinzuversetzen, deren Leben sich damals auf grundlegende und traumatische Weise veränderte..

Was bedeutet es, wenn…

(1) … Freunde sich von einem abwenden und die Straßenseite wechseln? 

(2) … man auf der Straße beleidigt, bespuckt oder sogar tätlich angegriffen wird? (Sarah)

(3) … die Familie Angst haben muss, ihren Glauben zu leben? (Sophie)

(4) … man nicht selbst entscheiden darf, wo und wann man raus und einkaufen geht? (Lisa)

(5) … einem verboten wird, zur Schule zu gehen? (Leonie)

(6) … die Eltern ihre Arbeit verlieren und ihre Familie nicht mehr ernähren können? (Josefine)

(7) … man nachts aus seinem Bett gerissen wird, Fremde das Zimmer verwüsten und die Polizei tatenlos danebensteht? (Theresa)

(8) … man geschlagen wird, die Familie bestohlen und ihre Möbel aus dem Fenster geworfen werden und die Nachbarn nur zuschauen? (Anna-Lena)

(9) … man ohne Geld in ein fremdes Land fliehen muss, in dem man niemanden kennt und die Sprache nicht spricht? (Lena)

Epilog

Wie sieht es heute in Deutschland aus?

Laut einer Studie hatte jeder 4. Jugendliche schon einmal antisemitische Gedanken. Vor zehn Jahren war es noch jeder achte. Können wir davon sprechen, dass heutzutage alles in Ordnung ist? Sicherlich nicht.

Es liegt an uns, dies zu ändern, indem wir darüber reden und bereit sind, uns mit diesem Thema auseinander zu setzen, denn nur wenn wir umfassend informiert sind, können wir sensibel damit umgehen. 

Auf die Frage warum Manfred Levy, Lore Levys Bruder, nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt war, antwortete er unter anderem, dass er die deutsche Nachkriegsgeneration kennenlernen wollte. Wir alle sind diese Generation, die immer wieder anfangen muss, etwas zu verändern. Es liegt in unserer Verantwortung, dass das, was Lore Levy und so vielen anderen Menschen passiert ist, nie wieder passiert. Weder in Neuss, noch in Deutschland; noch in Europa; noch irgendwo anders.

Musik: Francis Poulenc, Sonate für 2 Klarinetten (2. Satz)

Grundkurs Geschichte der Jgst. Q 2 des Gymnasiums Marienberg, Neuss

Lisa Bui ,Sarah Dammann,Theresa Ehl,Sina Heiser,Lena Hengehold,Madeleine Kloft,Leonie Langer,Josefine Schachtner,Mara Struß,Anna-Lena Weigelt,Sophie Willen sowie die Musikerinnen Laura Matheisen (Q2) und Annika Becker (Jgst. 8)

Dr. Jan Eschbach

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Der Geschichts-Grundkurs des jetzigen Abiturjahrgangs von Marienberg hat sich unter Leitung von Herrn Dr. Eschbach der Erforschung des Schicksals von jüdischen Mitschülerinnen zur Zeit der NS-Verfolgung zugewandt.

Bei ihrer Vorbereitung auf die Teilnahme an der Gedenkveranstaltung haben die Schülerinnen des Kurses unter anderem auch das Gespräch mit Herrn Bert Römgens von der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf gesucht. Dabei stand das Thema „Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945“ und der zunehmend um sich greifende Antisemitismus im Mittelpunkt des Austauschs und natürlich spielten die jüngsten Ereignisse in Halle dabei eine besondere Rolle.

Außerdem besuchten die Schülerinnen einen Vormittag lang das Neusser Stadtarchiv und erforschten dort - unter Anleitung von Herrn Dr. Metzdorf und Frau Dr. Schaller - Material zum jüdischen Leben in Neuss, insbesondere während der NS-Zeit. Die im Stadtarchiv bereit gestellten Dokumente wurden gesichtet, ausgewertet und diskutiert.

Hierbei war ein deutlicher thematischer Schwerpunkt das Schicksal von fünf jüdischen Kindern, die zu dieser Zeit Schülerinnen an Marienberg waren: 
1. Die Geschwister Lotte, Ilse und Ruth Josephs, deren Vater Gustav Josephs damals das Kaufhaus Alsberg auf der Niederstraße leitete. Die gesamte Familie wurde deportiert und in Auschwitz ermordet. Das Gymnasium Marienberg ist deshalb nach einer Initiative von Herrn Reschke Pate für die "Stolpersteine" vor dem ehemaligen Anwesen der Familie Josephs in der Löricker Straße 
2. Lore Stein, geb. 1922 in Düsseldorf, umgekommen ca. 1942 im Ghetto Lodz. Sie wohnte in der Büttger Straße 18. 
3. Lore Levy, geb. 1922 in Osnabrück. Sie entkam mit ihrer Familie nach Argentinien und lebte dort bis zu ihrem Tod 2002. Auf Einladung der Stadt Neuss besuchte sie 1988 zusammen mit ihrem Bruder ihre ehemalige Heimatstadt. Ihr Bruder hatte sich nach dem Krieg in München niedergelassen. 

Der Beitrag wird sich exemplarisch mit Lores Schicksal auseinandersetzen, d. h. mit Fragestellungen zu Isolation, Stigmatisierung, Gewalt und Flucht und mit den damit verbundenen Umständen und konkreten Einwirkungen auf Biographie, Persönlichkeit, Identität und Umwelt der Betroffenen.

Musikalisch wird der Beitrag der Schülerinnen unterstützt durch die Klainettistinnen Laura Matheisen, Jgst. Q2 und Annika Beckers 8e, die Musik von Francis Poulenc spielen werden.